Trinkrituale

Viele Getränke, die heute als "Absinth" verkauft werden, haben nicht viel mit originalem Absinth gemeinsam. Und ebenso wird Absinth heute oft anders getrunken, als es damals üblich war.

Doch verstehen Sie uns nicht falsch: wir wollen Ihnen nicht vorschreiben, welche Methode "richtig" oder "falsch" ist. Wenn Sie es gekauft haben, trinken Sie es wie Sie wollen! Vielmehr soll unser Ziel sein festzustellen, welche Methode von historischer Authentizität ist - und wie Absinth sein Aroma für den besten Genuss voll entfalten kann.

Pur runterkippen?

Authentische Absinthe sind stark konzentriert. Unverdünntes Trinken ist geschmacklich vom hochprozentigen Alkohol dominiert, der zusätzlich die Geschmacksnerven betäubt und für die feineren Kräuteraromen unempfänglich macht. So bringt man sich um das bemerkenswerte Geschmackserlebnis, das man mit ordentlicher Trinkmethode hätte haben können.

Absinth war schon immer ein Konzentrat, das verdünnt werden sollte.[1]

Warum füllt man Absinth nicht verdünnt und trinkfertig ab?

Würde man den trinkfertigen, verdünnten Absinth in Flaschen abfüllen, würden sich das Öl und das Wasser allmählich abstoßen. Nach einiger Zeit würden die Bestandteile des Absinthes in getrennten Schichten in der Flasche schwimmen.
Außerdem sind die Geschmäcker verschieden: manche Absinthgenießer mögen ihren Absinth weniger verdünnt, manche bevorzugen eine höhere Verdünnung. Ein Mischungsverhältnis, das allen Geschmäckern gerecht wird, ist praktisch schwer realisierbar.

Das böhmische Ritual

Diese Trinkmethode stammt aus der prager Barkultur. Man legt einen Löffel auf den Rand eines Glases ab, darauf legt man einen Zuckerwürfel. Man nimmt eine kleine Menge Absinth und füllt diese über den Zuckerwürfel in das darunter stehende Glas. Dann zündet man den getränkten Zuckerwürfel an, und wartet bis dieser Blasen bildet und in den Absinth zu tropfen beginnt. Befürworter der Methode sprechen hier vom "Karamellisieren".
Dann wird die Flamme entweder ausgeblasen, und der Zucker mit dem Absinth vermischt. Oder man nimmt kaltes Wasser, gießt es über den Zucker und stellt so das gewünschte Mischungsverhältnis her, um abschliessend alles gründlich zu verrühren.

Viele Absinthgenießer halten diese, oft als "böhmisches Ritual" bezeichnete Methode für die traditionelle. Tatsächlich handelt es sich hier um eine junge Erfindung, die keine historische Entsprechung hat.[2]

Eines kann man sicher feststellen - verwendet man diese Methode mit einem höherwertigen, authentischen Absinth, verdampfen durch das Feuer nicht nur Teile des Alkohols, sondern auch Teile der feinen aromatischen Öle, die so wesentlich für den Geschmack sind. Für die geschmackliche Verbesserung ist diese Methode also bestenfalls kontraproduktiv.

Außerdem wird der Zucker durch das Verbrennen schnell bitter - das hat eine gewisse Ironie, da der Zucker ursprünglich zugegeben wurde, um die Bitterkeit des Wermuts zu mildern.

Das französische Ritual

Will man wissen, wie Absinth damals im Frankreich der Belle Époque getrunken wurde, gibt es viele eindrucksvolle Gemälde und Fotografien, die eine eindeutige Sprache sprechen: Absinth wird mit Wasser verdünnt.

Wasser reduziert die Konzentration des Alkohols und mildert ihn geschmacklich. Die Verdünnung löst die Kräuteröle aus dem Alkohol, so dass diese ihr volles Aroma entfalten können. Je kälter das Wasser, desto klarer trennt sich das Öl und trübt den Absinth ein. Für viele Genießer beginnt das Absintherlebnis schon mit dem Beobachten der Entstehung der Trübung, der Louche.

Oft kommt das eiskalte Wasser aus einer Karaffe, manchmal aus einer Absinthfontäne. Die verwendete Menge Absinth sollte etwa 30 ml betragen. Üblicherweise wird etwas Zucker beigegeben, der in Würfelform auf einen gelöcherten Absinthlöffel gelegt wird. Der Absinthlöffel wird auf den Glasrand abgelegt. Das Wasser wird entweder langsam aus einer Karaffe über den Zucker gegossen, oder durch stetiges Tropfen auf den Zucker aus einer Absinthfontäne beigegeben. So tropft das Wasser mit dem Zucker langsam in den Absinth.
Die Zuckermenge ist optional. Viele bessere Absinthe haben durch die sorgfältig bemessene Beigabe bestimmter Kräuter eine natürliche milde Süße, so dass manche Absinthgenießer Zucker für unnötig halten.[3]

Manche Genießer sprechen bei der zuckerfreien Zubereitung von der "Schweizer Trinkweise", da die schweizerischen "Blanche" beziehungsweise "La Bleue"-Absinthe durch bestimmte Kräuterbeigaben meist süßer sind.

Je nach Konzentrationsstärke des Absinths, und der persönlichen Vorliebe des Genießers, wird ein Mischungsverhältnis von drei bis fünf Teilen Wasser auf einen Teil Absinth empfohlen.

Wird für die Zubereitung eine Fontäne verwendet, kann man sehr deutlich die langsame Bildung der Louche beobachten.
Manche Genießer bevorzugen die Verwendung eines Brouilleurs, der einen ähnlichen Effekt erzielt, aber wesentlich handlicher und transportabler ist als eine Fontäne.

Beobachten wir beim langsamen Hinzufügen des Wassers die Entstehung der Louche, werden schwebende undurchsichtige Wolken in der klaren Flüssigkeit deutlich, die langsam wachsen und schlussendlich die gesamte Flüssigkeit ausfüllen.

Am Ende der Zubereitung haben wir nun ein Getränk, dessen Alkoholstärke mit Wein vergleichbar ist. Die Trübung kann in der Farbe variieren, da das für die Färbung verantwortliche Chlorophyll natürlichen Schwankungen unterworfen ist, und verschiedene Rezepte verschiedene farbliche Resultate ergeben können.
Vielleicht sehen wir einen blassen Bernsteinton. Vielleicht sehen wir ein kräftigeres Blattgrün. Oder vielleicht sehen wir ein edles mattes Weiß, wenn ein Blanche für Sie der Absinth der Wahl ist.
Das kalte Wasser hat die Kräuteröle aus dem Alkohol gelöst, so dass ein intensives frisches Aroma aus dem Glas strömt. Je langsamer wir trinken, desto intensiver werden die Aromen, wenn sich der Absinth langsam an die Zimmertemperatur annähert.
Und wenn Sie ihr Glas leeren, hoffen wir dass Sie uns zustimmen werden, wenn wir behaupten dass Absinth ein einzigartiges Geschmackserlebnis ist.

Santé!

Historisch gesprochen war die Zubereitung von Absinth also kein pyrotechnisches Spektakel, bei dem man besser einen Feuerlöscher in Reichweite haben sollte.
Vielmehr war die Zubereitung und das Trinken von Absinth in Bars und Bistros ein soziales Ereignis in feierlicher Stimmung. Menschen aller Couleur kamen zusammen, um in gelöster Atmosphäre ihre Alltagshektik hinter sich zu lassen.

Und wer schon einmal mit guten Freunden in gemütlicher Stimmung an einer Fontäne gesessen und das langsame Entstehen der Louche beobachtet hat, weiß dass dieser einzigartige Zauber des Absinths auch heute noch nicht verloren gegangen ist.